Wie unser Leben und Erleben von Beziehung durch KI für immer verändert wird (Teil 2)

Wie wir Beziehung lernen und warum wir Illusionen brauchen

Menschen sind Gefühlswesen. Weitaus mehr unserer Entscheidungen und unseres Verhaltens, als die meisten von uns sich klar machen, ist durch Gefühle, nicht durch rationale Überlegungen bestimmt. Hinzu kommt, dass ein großer Teil unserer Gefühlswelt sich gemäß dem psychoanalytischen Menschenbild in unserem dynamischen Unbewussten abspielt und sich damit per definitionem unserer Kontrolle entzieht. Freud beschrieb diese Kränkung unseres Egos einst mit folgendem Satz: »Der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus.«

Die Welt, in die wir als Mensch geworfen sind, ist eine oft lebensfeindliche Welt. Als Säugling, wenn wir sie erstmals betreten, sind wir ihr hilflos ausgeliefert. Als Erwachsene haben wir einige Kompetenzen entwickeln können, uns mit den Herausforderungen des Lebens auseinanderzusetzen. Dennoch bleibt eine grundsätzliche Bedrohung erhalten, zumal wir durch erfahrene emotionale Verletzungen, Naturkatastrophen, Kriege, Unfälle und co. verstanden haben oder zumindest unbewusst spüren, dass weder unsere Macht noch die eines anderen hinreicht, uns für immer vor aller Versehrtheit zu bewahren. (Die Suche nach dem wissenschaftlichen Quell ewigen Lebens, das zwanghafte Streben nach Reichtum, das Machtstreben rücksichtsloser Herrscher:innen sind immer auch Ausdruck verdrängter Furcht vor der eigenen, unausweichlichen Sterblichkeit.)

Um diese uns ständig umgebende Bedrohungslage auszuhalten, brauchen wir die Fähigkeit, einerseits schwer erträgliche Gefühle zu verdrängen, andererseits mit Hilfe unserer Phantasietätigkeit uns beruhigende Illusionen aufzubauen. Eine der beliebtesten Illusionen auf der zwischenmenschlichen Beziehungsebene dürfte die Vorstellung sein, dass eine uns nahe stehende Person immer weiß, was wir in schweren Zeiten brauchen, damit es uns gut geht, und wie wir es uns nehmen können. Als Kind ist es ein Elternteil, dem wir diese Macht zuschreiben. In späteren Liebesbeziehungen können solche unbewussten Versorgungswünsche wieder auftauchen. Manche überwinden sie nie.

Illusionen sind aufgrund ihrer beruhigenden Funktion nichts per se Schlechtes. Wir brauchen sie, um uns sicher, geborgen, geliebt zu fühlen. Schon als Säugling sind wir auf Beziehungserfahrungen angewiesen, die uns eine Illusion von Macht und Kontrolle in einer uns ständig ängstigenden Umgebung verschaffen. Eine imaginierte, übermächtige Person, die uns unser unverständliches Dasein mit all seinen ängstigenden Erlebnissen und Körpersensationen ein Stück weit abnimmt. Wer würde sich im Säuglingsalter für eine solche Projektion der eigenen Wünsche und Sehnsüchte besser eignen, als ein Erwachsener, riesig, allwissend, mit seinem Gesicht ständig über uns thronend?

West-Leuer (2015) beschreibt den Beziehungs-Prozess zwischen Säugling und Bezugsperson folgendermaßen:

»Den individuellen Umgang mit den Basisaffekten lernen wir im Gesicht unserer frühen Bezugspersonen, in der Regel im Gesicht der Mutter. Ist die Zuwendung von Empathie gesteuert und stressreguliert, bewirkt sie eine Optimierung und Reifung der stressmodulierenden neuronalen Systeme im kindlichen Gehirn. (…) Diese enorme Leistung, sich anhand kindlicher Mikrosignale unmittelbar in dessen Erleben einfühlen zu können (affect attunement), ist die Voraussetzung einer angemessenen Stressregulation. Eine ausreichend feinfühlige Bezugsperson ist darüber hinaus in der Lage, den jeweiligen Affektzustand ihres Kindes in sich zu erzeugen und in Resonanz mit dem Kind dessen aktiviertes Affektsystem nachzuempfinden (affect sharing). Daraufhin kann sie in Sekundenschnelle ein affektexpressives Antwortsignal und damit dem Kind ein Symbol für dessen eigenes Erleben zur Verfügung stellen. Dies geschieht sehr intensiv über ihren affektadäquaten Gesichtsausdruck, der mit hoher Konzentration vom Säugling beobachtet wird.«

Als Säugling brauchen wir demnach eine Bezugsperson, die in der Lage ist

  1. sich in uns einzufühlen und zu erkennen, was wir fühlen, jedoch selbst noch nicht verstehen und nur durch Schreien ausdrücken können.

  2. uns unsere Affekte in »verdauter« und »entgifteter« Form zu spiegeln, sodass wir uns verstanden fühlen, eine Vorstellung dazu entwickeln, was gerade mit uns los ist (Bauchschmerzen, Hunger, müde, traurig, ängstlich etc.) sowie beruhigt darin sein können, dass dieser Zustand sich beheben lässt oder zumindest vorübergehen wird, dass wir ihn also überleben werden.

Dieser Austausch zwischen Säugling und Bezugsperson ist hochkomplex. Sein Gelingen speist sich aus einer tiefen Verbundenheit zwischen den Beteiligten, aber ganz wesentlich natürlich auch aus der emotionalen Feinfühligkeit, Tiefe und Stabilität der Bezugsperson.

Wie gut wir als Erwachsene in der Lage sind, uns in Beziehung zu unseren Mitmenschen zu regulieren, und damit auch: wie gut wir als Menschen insgesamt in der Lage sind, Beziehungen zueinander zu regulieren und Konflikte prozesshaft (und gewaltfrei) auszuhandeln, hängt davon ab, welche frühen Bindungserfahrungen wir machen konnten, in denen wir uns gesehen, gehalten, geborgen und machtvoll fühlten. Und wie gut ausdifferenziert und ausbalanciert dadurch unser affektives Innenleben ist.

Die Illusion einer Kontrolle

Die »Illusion einer Kontrolle« (West-Leuer, 2015) kommt im Säugling zustande, wenn die Bezugsperson die Bedürfnisse des Kindes angemessen befriedigt. Das Kind kann sich machtvoll fühlen; es spürt: Ich kann dafür sorgen, dass ich das, was ich dringend brauche, auch bekomme.

Haben wir in ausreichendem Maß entsprechende Erfahrungen in unserer Kindheit machen können, verinnerlichen wir dieses Gefühl und können den Heruasforderungen des Lebens mit Zuversicht und Selbstbewusstsein begegnen. Auch wenn wir als Erwachsene nicht selten die Erfahrung machen und zu verstehen beginnen, dass wir nicht alles bekommen, was wir (meinen zu) brauchen, gibt uns dieses innere, oft unbewusste Gefühl emotionalen Halt und lässt uns schwere Zeiten durchstehen und an ihnen wachsen.

Diese empfundene »Illusion einer Kontrolle« ist also notwendige Voraussetzung, um uns den Herausforderungen und Brüchen des Lebens überhaupt erst stellen zu können. Um an ihnen wachsen zu können, anstatt daran zu zerbrechen.

Wer dieses Gefühl als Kind nicht ausreichend verinnerlichen konnte, hat als Erwachsene:r einiges nachzuholen. Und startet ins Erwachsenenleben mit einem großen emotionalen Nachteil. Dennoch: Emotionale Mängel, die wir im Kind- und Kleinkindalter erlebt haben, können aufgearbeitet, ihre Folgen bis zu einem gewissen Grad überwunden werden. Wir sind nicht durch unsere Kindheit determiniert, obgleich sie uns natürlich ein Leben lang begleiten und - bewusst und unbewusst - beschäftigen wird.

Von Mensch zu Mensch: eine Beziehung, die Illusionen enthält

Ein Leben lang wird es einen (meist unbewussten) Teil in uns geben, der danach strebt, unsere »Illusion von Kontrolle« in zwischenmenschlichen Beziehungen bestätigt zu sehen. Nur so meint dieser Teil, den Unwägbarkeiten des Lebens gewachsen zu sein und die Gefühle, die sie in ihm auslösen, ertragen zu können. Hieraus speist sich das menschliche Streben nach Macht, Gefühle von Stolz bei jenen Taten, die als Triumph angesehen werden, Scham, wenn wir meinen, gescheitert zu sein. Eine wesentliche Erfahrung unseres Daseins bleibt letztlich jedoch, dass unsere Macht eingeschränkt wird durch die Befindlichkeiten und Bestrebungen anderer, durch unsere körperliche und seelische Verletzlichkeit.

Unbewusst gehen wir eine tiefe Verbindung zu einem Mitmenschen in dem Wunsch ein, alle unsere Erwartungen und Hoffnungen erfüllt zu sehen. Zugleich in der Angst, diese könnten enttäuscht werden. So finden auch in tiefen zwischenmenschlichen Bindungen zwischen Erwachsenen stets Machtkämpfe um die Verteilung von Gütern statt. Vorrangig geht es dabei um immaterielle Güter wie Fürsorge, Verständnis, Rücksichtnahme, Anpassung, Schutz.

Wir entwickeln ein nicht nur auf Beobachtung und Erfahrung, sondern auch auf unseren Sehnsüchten aufgebautes Bild von unserem Gegenüber, das wir erst über die Zeit hinweg mit der Realität abgleichen. Illusionen darüber, wer unser Gegenüber ist, werden - mehr oder weniger behutsam - abgebaut und der Blick auf ihn:sie wird realistischer. Gemeinsam wird die Beziehung umgestaltet, weiterentwickelt. Die an der Beziehung Beteiligten durchlaufen in diesem Prozess eine persönliche Entwicklung, die ohne diese Beziehungsarbeit nicht möglich wäre.

Denn der Abbau eigener Illusionen, und die Enttäuschung, die er mit sich bringt, birgt die Chance, in sich selbst wirkmächtiger und eigenständiger zu werden. Sich weniger in kindlich-abhängiger Weise auf sein Gegenüber zu beziehen und stattdessen eigene Kompetenzen im Meistern von Herausforderungen des Lebens auszubauen. Lassen wir uns auf einen solchen Prozess ein und schaffen es, Enttäuschungen auszuhalten und an ihnen zu wachsen, anstatt unser Gegenüber dafür zu bestrafen oder es uns von vornherein gefügig zu machen, so lernen wir, uns selbst - unsere Fähigkeiten und Grenzen - ebenso wie unsere Mitmenschen differenzierter wahrzunehmen und uns einzufühlen.

Fazit

Zuletzt möchte ich noch ein Zitat Sigmund Freuds zum Thema Illusionen anbringen:

»Illusionen empfehlen sich uns dadurch, daß sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedigungen genießen lassen. Wir müssen es dann ohne Klage hinnehmen, daß sie irgend einmal mit einem Stücke der Wirklichkeit zusammenstoßen, an dem sie zerschellen.« (Freud, S. (1915b): Zeitgemäßes über Krieg und Tod. GW X: 331)

Die Frage dürfte sein, welche Form das Zerschellen annimmt? Ich würde sagen: Je umfassender und tiefgreifender die Illusion, mit der wir leben, desto schmerzhafter, persönlich oder gesellschaftlich überraschender und plötzlicher wird der unweigerliche Prozess ihres schrittweisen Abbaus erlebt. Wir haben deshalb als Individuen und als Gesellschaft ein Interesse daran, einerseits zeitweise an Illusionen festzuhalten, andererseits diese nicht zu ausschweifend in Anspruch zu nehmen. Sondern kontinuierlich uns mit ihrem Abbau zu befassen, während gleichzeitig bereits neue Illusionen sich in uns und um uns herum zu manifestieren beginnen.

Vielen Dank für Deine Aufmerksamkeit.

Laura J. Streck

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